Leseprobe

„Ich spüre ihn nicht“, sagte Eather eines Abends. „Sam ist jetzt acht und ich kann ihn immer noch nicht als unseren Sohn annehmen.“
     Roman sah von der Zeitung, die er gerade nach dem wohlverdienten Arbeitstag im Wohnzimmer las, auf. „Wir wussten, dass es schwierig werden würde. Du darfst nicht vergessen, dass er ein fremdes Kind ist und nicht unsere Gene hat. Deswegen ist es umso schwerer, an ihn heranzukommen. Du solltest die Situation einfach so annehmen, wie sie ist, und Sam einfach ein gutes Zuhause bieten. Sieh mal, seit fast zwei Jahren gibt es keine Vorfälle mehr. Er geht zur Schule und benimmt sich unauffällig. Das ist doch ein riesiger Erfolg! Findest du nicht?“
     Eather nickte. So hatte sie es noch nicht betrachtet. Roman hatte recht. Die ersten sechs Jahre waren von vielen schweren Stunden geprägt gewesen. Sie hatte die Adoption einfach unterschätzt und sich als glückliche Familie sehen wollen, doch es war schlichtweg nur harte Arbeit gewesen. „Roman?“, fragte sie.
     Ihr Mann war wieder in seinem Börsenbericht vertieft und sah nicht auf. Das Feuer knisterte im Kamin und Sam war oben in seinem Zimmer.
     „Was denkst du über den Vorfall in der Schule?“ Eather hatte nie wirklich darüber geredet, weil sie zu viel Angst davor hatte, doch nun, nach zwei Jahren, hatte sie Abstand zu der Sache gewonnen und ließ endlich die Fragen zu, die sie damals hätte stellen sollen. Das hätte vieles verhindert.
     „Lass uns bitte nicht darüber reden, Eather. Das ist erledigt. Es war ein Schabernack unter Kindern.“
     Diese Antwort war ihr zu einfach. „Wir sollten trotzdem noch mal darüber reden. Die Sache verlief zu glatt. Dories Eltern sagten, dass ihre Tochter nie in diese Richtung Auffälligkeiten gezeigt hatte. Roman, was denkst du wirklich?“
     Roman legte genervt die Zeitung neben sich aufs Sofa und sah seine Frau an. „Was willst du hören, Eather? Dass ich ihm ohne Weiteres dieses schamlose Verhalten zugetraut hätte? Dass er ein unheimlicher Kauz ist? Dass ich ihn nicht mag? Dass er hässlich ist? Dass er abstoßend wirkt? Dass ich ihn am liebsten irgendwo draußen aussetzen und hoffen würde, dass er krepiert? Willst du das hören?“
     Genau das waren die Antworten, die Eather die ganze Zeit gespürt hatte. Roman hatte sie schlichtweg in Fragen verpackt, um sich zu schützen. „Ist es nicht so, dass du ihn auch nicht spüren kannst?“, fragte sie vorsichtig.
     „Ich habe für das Einkommen zu sorgen“, antwortete er, „weiter nichts.“
     „Dann ist Sam also meine Angelegenheit?“
     Er nickte und griff wieder zur Zeitung.
     „Gut“, sagte sie, „dann werde ich auch die Entscheidungen für ihn treffen. Ich rufe morgen beim Jugendamt an und erkundige mich, ob wir die Adoption rückgängig machen können.“
     Er lachte! „Jetzt, wo es endlich läuft, willst du tatsächlich alles abbrechen? Das ist ja lächerlich!“
     „Ich spüre ihn nicht, Roman! Ich möchte ihn spüren, aber er fühlt sich so kalt an.“
     Er lachte erneut!
     „Er fühlt sich wie ein Fremder im Haus an. Hast du nicht selbst gesagt, dass seine Blicke auf uns unheimlich sind? Ich habe Angst vor ihm.“
     Roman legte die Zeitung wieder weg. „Angst? Das ist ja lächerlich! Er ist ACHT!“
     „Er wird älter! Er wird Dinge tun, die wir nicht mehr geradebiegen können.“
     „Und die wären?“
     „Alkohol, Drogen, Diebstahl, Kriminalität! Erinnere dich, er kommt aus einem solchen Milieu. Er trägt diese Gene in sich. Weißt du, was ich glaube? Er hat Dorie wirklich angefasst! Und er hat sie bedroht, sodass sie lügen musste, um sich zu schützen. Hast du ihre Angst gesehen, als sie gelogen hat?“
     Roman holte tief Luft. „Du übertreibst! Es war ein Kinderspiel!“
     „Nein, Roman, das war etwas, das er bei uns gesehen haben muss. Etwas muss ihn dazu motiviert haben.“
     „Hast du mal an Dories Eltern gedacht? Vielleicht treiben die es ja vor ihrer Tochter!“
     „Du willst es nicht verstehen, Roman! Wir sollten uns schützen. In Sam steckt ein unbeseelter Mensch. Er wird großes Unglück über uns bringen.“
     Roman zerknüllte die Zeitung und warf sie ins Feuer. Er wollte nur noch seine Ruhe. Die Sache mit Sam lief seit vielen Monaten ohne Vorfälle. Alles schien sich einzurenken und seine Strategie endlich zu fruchten. Er, Roman Corbett, hatte es geschafft, ein Kind zu retten! Und er hatte es auf den richtigen Weg gebracht! Er fühlte sich gut damit. Deswegen sagte er: „Anstatt Sam loszuwerden oder irgendwelche Angstszenarien um ihn aufzubauen sollten wir überlegen, ob wir ihn nicht ein Stück weit „beseelen“ können, wie du so schön sagst, und schauen, ob wir nicht seine Schwester aufnehmen können. Dann hätte er einen eigenen familiären Halt in unserer Familie. Er würde sehen, wie wichtig er uns ist, und es würde ihn vielleicht etwas lebendiger werden lassen. Darüber sollten wir nachdenken, Eather! Nach vorne schauen. Die Dinge aufbauen, nicht abbauen!“
     Eather sah ihren Mann an – der unverbesserliche Optimist. Er stellte nichts infrage, wollte nichts von Problemen wissen und versteckte jede Emotion, sobald sie sich schlecht anfühlte. Kein Wunder, dass die Versicherung sich um ihn als Berater riss!
     „Du meinst das ernst?“
     Er nickte. „Das meine ich. Du denkst zu viel nach. Du solltest dich an den guten Dingen freuen. Dann kannst du Sam auch endlich „beseelen“, wie du so schön sagst.“
     Eather fühlte sich verletzt und doch waren Romans Gedanken nicht so abwegig. Es könnte tatsächlich das Leben von Sam positiv beeinflussen. Sie wollte ihn gleich morgen fragen.
     Sam sah oben von der Treppe aus zu, wie sie das Feuer im Kamin löschten und sich fürs Bett fertigmachten. Er hörte sie im Schlafzimmer leise stöhnen und schlich sich wie immer heimlich zur Tür, um sie einen Spalt breit zu öffnen und zuzuschauen. Seine Schwester Pat bei sich zu haben, wäre vielleicht nicht übel. Er müsste nicht erneut Ausschau nach einem Mädchen halten ...